Quellenkritik

Im Zuge der sogenannten Quellenkritik wird eine Quelle daraufhin befragt, wer ihre Urheber*in ist, wie sie entstanden und zu datieren ist und inwiefern ihr Inhalt echt oder authentisch ist. Mittels Quellenkritik können Sie sich im Hinblick auf Ihre Quelle klar machen, "wie, wann und warum" ein Ereignis oder Sachverhalt darin "auf bestimmte Weise dargestellt" wurde. Häufig müssen Sie die Arbeitsschritte der Quellenkritik nicht mehr selbst leisten, oder die Quellenkritik bedarf keines größeren Aufwands. So werden Sie es in der Regel mit Quellen zu tun haben, deren Urheber*in und Entstehungsdatum bekannt sind. Edierte Quellen, digital zugängliche Quellen oder auch Quellen aus einem Archiv sind meist bis zu einem gewissen Grad erschlossen und aufgearbeitet, zumindest der Überlieferungszusammenhang ist in den meisten Fällen einigermaßen klar. 

Auch wenn Sie normalerweise nicht mehr herausfinden müssen, auf welche Zeit eine Quelle datiert, wer ihr*e Urheber*in ist, oder ob es sich um eine Fälschung handeln könnte, sind quellenkritische Überlegungen wichtig für Ihre Arbeit und Sie sollten sie mit Ihrer Forschungsfrage und deren Bearbeitung verknüpfen. Verdeutlich sei dies beispielhaft mittels des bereits erwähnten Zeitungsberichts über das Attentat von Sarajevo von 1914:

Stellen Sie sich vor, Sie möchten mit Hilfe eines Artikels über das Attentat herausfinden, wie selbiges zeitgenössisch wahrgenommen wurde. Dazu haben Sie das digitale Angebot der ÖNB ↗ genutzt und in ANNO einen zeitgenössischen Artikel über das Attentat recherchiert, den Sie jetzt zur Beantwortung Ihrer Forschungsfrage heranziehen. Die quellenkritischen Fragen, wer Urheber*in des Artikels ist und von wann er datiert, könnten Sie in diesem Fall problemlos beantworten. Das Datum finden Sie klarerweise auf der Ausgabe der betreffenden Zeitung. Den*Die konkrete*n Artikelschreiber*in können Sie vielleicht nicht eruieren, allerdings kennen Sie die Zeitung, in der der Bericht erschienen ist, und können sie historisch und politisch einordnen - etwa indem Sie die Zeitung selbst und deren Impressum unter die Lupe nehmen, aber auch über die Infos zur Zeitung, die ANNO häufig bereitstellt. Auch wenn Sie die Beantwortung derartiger klassischer quellenkritischer Fragen nun wenig Zeit und Mühe gekostet hat, ist es sinnvoll und wichtig, diese im Kopf zu behalten und mit Ihrer Forschungsfrage zu verknüpfen. Quellenkritik wird Ihnen nämlich dabei helfen, sich zu überlegen, worüber Sie anhand Ihrer Quelle überhaupt Aussagen treffen können. Ein zeitgenössischer Artikel über das Attentat von Sarajevo wird vermutlich eine andere Perspektive auf die Ereignisse haben als ein Artikel aus dem Jahr 1964. In einem Artikel über das Attentat, der 1914 in Wien erschien, wurde wohl eine andere Perspektive auf die Ereignisse eingenommen, als in einem Artikel, der 1914 in Belgrad erschien. Ein Artikel von 1964 sagt Ihnen nichts über die Wahrnehmung das Attentats im Jahr 1914, ein Artikel aus Belgrad nichts über die Wahrnehmung in Wien - und umgekehrt. 

Quellenkritische Überlegungen sind also essentiell, um die Bedeutung Ihrer Quelle für Ihre Forschung zu erfassen und sich klar zu machen, worüber Sie mit Ihrer Quelle Aussagen treffen können und worüber nicht. So schreibt Stefan Jordan: "Im Zentrum der Quellenkritik geht es also darum, wie, wann und warum bestimmte historische Geschehnisse auf bestimmte Weise dargestellt worden sind." Quellenkritik ermöglicht es Ihnen, Ihre Quelle historisch-politisch einzuordnen und zu überlegen, worüber Sie mit ihr Aussagen treffen können und welchen Stellenwert sie für die Beantwortung Ihrer Forschungsfrage einnimmt oder überhaupt einnehmen kann. Darum können Ihnen quellenkritische Überlegungen immer auch dabei helfen, Ihre Forschungsfrage zu formulieren und/oder weiterzuentwickeln. 

Zu alledem sei noch ein weiteres Beispiel angeführt, ausgehend von folgender fiktiver Forschungsfrage: "Wie thematisierte Franz-Xaver Müller in seinen Kriegstagebüchern Akte sexualisierter Gewalt an der Zivilbevölkerung während des Ersten Weltkriegs?"

Quellenkritisch gibt es hier unter anderem Folgendes zu berücksichtigen: Analysiert wird ein Tagebuch. Tagebücher haben bestimmte Charakteristika, die sie etwa von publizierten Autobiographien unterscheiden, genauso wie von Zeitungen oder Verwaltungsschriftgut. Diese Charakteristika der Quelle gilt es bei der eigenen Forschung zu berücksichtigen. Bedeutend ist natürlich wieder, wer Urheber*in der Quelle ist, in diesem Beispiel der fiktive Franz-Xaver Müller. Je nach Geschlecht, Milieuzugehörigkeit, politischer Orientierung, Rang in der Armee (einfacher Soldat, Offizier, etc.) warf er vermutlich einen unterschiedlichen Blick auf die Ereignisse, von denen er in seinem Tagebuch berichtet. Wer mit obiger Forschungsfrage bezweckt, etwas über die Thematisierung sexualisierter Gewalt seitens einfacher Soldaten herauszufinden, aber bemerkt, dass Franz-Xaver Müller eigentlich hochrangiger Offizier war, muss die Fragestellung anpassen, oder nach einer neuen Quelle suchen. Dasselbe gilt, wenn jemand mit obiger Forschungsfrage auf die Thematisierung sexualisierter Gewalt seitens sozialistisch eingestellter Soldaten schließen möchte, Franz-Xaver Müller aber politisch konservativ war. Quellenkritik zielt also immer auch darauf ab, die herangezogene Quelle in ihren Kontext einzuordnen, um mit Hilfe der Quelle bestmöglich Aussagen im Hinblick auf die eigene Forschungsfrage treffen zu können. 

Folgende acht, von Gunilla Budde angeführte W-Fragen sind zentral für die Quellenkritik:

  • "Wer hat die Quelle verfasst?"
  • "Wann entstand die Quelle?"
  • "Wo wurde die Quelle erstellt?"
  • "Welche Art von Quelle ist es?"
  • "Wen hat die Quelle als Adressaten im Visier?"
  • "Wie ist die Quelle überliefert?"
  • "Warum wurde sie erstellt?"
  • "Wovon kündet die Quelle, wovon schweigt sie?"

Literatur

  • Klaus Arnold, Quellenkritik, in: Stefan Jordan (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe (Stuttgart 2002), S.255–257, hier S.255-257 zur Frage nach Urheber_in, Entstehung, Datierung, Authentizität einer Quelle im Zuge der Quellenkritik.
  • Gunilla Budde, Quellen, Quellen, Quellen ..., in: Gunilla Budde/Dagmar Freist/Hilke Günther-Arndt (Hg.), Geschichte. Studium - Wissenschaft - Beruf (Akademie Studienbücher. Geschichte, Berlin 2008), S.52–69, hier S.67 zu W-Fragen und diesbzgl. direkten Zitaten..
  • Stefan Jordan, Einführung in das Geschichtsstudium, Überarbeitete und erweiterte Ausgabe 2019 (2019), S.139-144, hier insb. 141-144 zur Quellenkritik; S.144 zu Quellenkritik & "wie, wann und warum" ein Ereignis etc. "auf bestimmte Weise dargestellt" wurde sowie zu Arbeitsschritten der Quellenkritik, die häufig nicht mehr selbst zu leisten sind etc. sowie zu Bedeutung quellenkritischer Überlegungen und "Im Zentrum der [...] dargestellt worden sind.".