Thesen und Hypothesen

Sozialwissenschaftlich orientierte Geschichtsforschung basiert auf der systematischen Arbeit mit wissenschaftlichen Hypothesen und Thesen. Ausgehend von der Beobachtung, dass man zu allen Fragestellungen, die man behandelt, von vornherein unreflektierte Vorannahmen hat, ist die Forderung nach der Konkretisierung zu soliden Aussagen naheliegend. Durch die Formulierung von Thesen werden die vorher kaum reflektierten (teilweise nicht oder kaum bewussten) Annahmen nicht nur offengelegt sondern auch überprüfbar gemacht. 


Was sind Hypothesen oder Thesen

"These" und "Hypothese" wird oftmals als Synonym verwendet. Unterscheidet man sie jedoch, so sind Hypothesen hier eher als Vorannahmen zu verstehen, die Sie beispielsweise bereits zu Beginn in Ihr Exposé schreiben. Mit der Ausarbeitung der Fragestellung werden Ihre Hypothesen entweder belegt oder widerlegt und die daraus abgeleiteten Annahmen müssen womöglich während des ersten Schreibens dahingehend geändert werden. Thesen wiederum bezeichnen eher die konkretisierten Annahmen, die Sie im Text mit adäquaten Argumenten und Quellen belegen. Bei einer empirischen Arbeit, bei der Sie beispielsweise Daten erheben und auswerten, werden Hypothesen durch die Untersuchung entweder belegt oder widerlegt, woraus wiederum neue konkrete Thesen abgeleitet werden können.

Ausgehend von einfachen Hypothesen, also "Alltagsannahmen", die Sie aufgrund erster Auseinandersetzungen mit einem Thema treffen, werden bis zur Finalisierung des Textes ausführlich begründete Thesen bzw. Annahmen beschrieben. Bei Ihren finalen Thesen handelt es sich also keinesfalls mehr nur um Mutmaßungen, sondern um wissenschaftlich (mithilfe von Literatur und anderen Informationen) begründete Annahmen. Thesen müssen aber nicht nur logisch, schlüssig und widerspruchsfrei formuliert werden, sondern in weiterer Folge im wissenschaftlichen Diskurs auf ihre Gültigkeit getestet werden. Thesen die sich im Zuge der Überprüfung als falsch herausstellen, müssen mit Hilfe der Literatur bzw. anderen Informationen reflektiert, modifiziert und erneut überprüft werden.

Erarbeitung von Hypothesen und Thesen

Voraussetzung für die Erstellung eigener Hypothesen sind exakt beschriebene Fragestellungen inklusive der Klärung der verwendeten Begriffe. Bei der Erarbeitung Ihrer Hypothesen sollten Sie ihre Fragestellung reflektieren und dabei insbesondere Ihre Grundannahmen eruieren. Auf der Basis eines Katalogs von (noch nicht elaborierten) Hypothesen können Sie in der Forschungsliteratur nach Argumenten für und gegen diese Hypothesen suchen und sodann Ihre Argumente abwägen. Grundannahmen, die dieser Kritik standhalten, sollten Sie zu Thesen ausformulieren.
Achten Sie dabei darauf, dass die Hypothesen als Aussagen mit vorläufigem Charakter formuliert werden und einen Zusammenhang von Sachverhalten erklären und begründen sollen. Hypothesen müssen ohne internen Widerspruch formuliert und widerlegbar sein.

Beispiel einer These

Hier eine These aus der Lehrveranstaltung "Proseminar für Zeitgeschichte: Jüdisches Leben in Wien vor der Shoah":

Wohnumgebung jüdischer Zuwanderer

Ausgehend von der Frage, ob jüdische Zuwanderer in Wien gegen Ende des 19. Jahrhunderts eher den bekannten sozio-kulturellen Umraum der Untermiete bei einem Vermieter gleicher Religion oder die preisgünstige Unterkunft in einem Massenquartier suchten, habe ich folgende These entwickelt:Zugewanderte Juden wohnten zu einem höheren Anteil in jüdischen Haushalten (mit jüdischen Haushaltsvorstand) als in nicht-jüdischen Haushalten (mit nichtjüdischen Haushaltsvorstand)! Da in Wien das Phänomen des Bettgehertums weit verbreitet war, musste man nicht unbedingt ein Massenquartier aufsuchen, um zu einer billigen Schlafgelegenheit zu kommen. Wenn sich nun für zugewanderte Juden einerseits das tendenziell nichtjüdische Massenquartier, und andererseits das Bettgehertum in einem jüdischen Haushalt in ähnlicher Preisklasse bot, entschieden sich die jüdischen Immigranten wohl für die bekannte kulturell-religiöse Umgebung. Diese Tendenz wird eventuell auch noch dadurch verstärkt, dass mittel-osteuropäische MigrantInnen noch stärkere religiöse Bindungen hatten, als einheimische Juden.

Operationalisierung

Bei der Operationalisierung werden anhand der vorliegenden Quellen/Daten die zur Überprüfung einer Hypothese notwendigen Sachverhalte konkretisiert. Dazu müssen genaue Anweisungen gegeben werden, wie die Sachverhalte beschaffen sein müssen, um für die jeweilige Art der Analyse geeignet zu sein.

Im Zuge der Operationalisierung werden die entwickelten Thesen an das zur Verfügung stehende Quellenmaterial angepasst und damit für die Analyse vorbereitet.

Indikatoren

Ein Indikator ist ein Untersuchungsmerkmal, das als beweiskräftiges Kennzeichen für einen spezifischen Sachverhalt geeignet ist.

Zur Untersuchung der definierten Begriffe benötigen wir meist aussagekräftige Indikatoren. Sie sind Kennzeichen, die auf einen konkreten Sachverhalt hinweisen (z. B. die Anzahl von Gesellen und Lehrlingen als Indikator für die Betriebsgröße im Handwerk), bzw. beweiskräftige Merkmale (z. B. das Geburtsdatum als Indikator für Alter einer Person) die als Mittel zur Beweisführung bei der Thesenüberprüfung herangezogen werden.

Praktische Anwendung

Bei der Operationalisierung einer These legen Sie fest, wie die Attribute, die einen Sachverhalt beschreiben (= Indikatoren), analysiert werden sollen.

Bereits bei der Definition der Indikatoren müssen Sie im Auge haben, welches Datenmaterial Ihren Thesen am ehesten entspricht und welches Ihnen tatsächlich zur Verfügung steht. Spätestens hier entscheidet sich auch, ob Sie eine qualitative oder quantitative Quellenanalyse vernehmen müssen.

Die Zugehörigkeit von Menschen zu einer sozialen Schicht wird anhand von Information über Bildungsstand, berufliche Stellung bzw. Einkommen operationalisiert. Die notwendigen Daten erhalten sie entweder mittels einer Befragung oder aus prozessproduzierten Quellen.

Darüber hinaus umfasst die Operationalisierung eventuell auch die genaue Beschreibung der Erhebungsmethode, der Techniken zur Gewinnung von empirischer Information und der verschiedenen Arten der Aufbereitung von Information für die eigentliche Analyse (z.B. die Zusammenfassung mehrerer Antwortkategorien als Indikator für eine bestimmte soziale Schicht).

Falls Ihre These nicht bestätigt wird, muss der Prozess der Operationalisierung mit geänderten Parametern erneut durchlaufen werden (hypothesengeleitete Forschung).

Beispiel einer Operationalisierung

Hier ein Beispiel für die Operationalisierung von Thesen aus der Lehrveranstaltung "Datenbanken in der Sozialgeschichte - Das jüdische Quartier in der Leopoldstadt".

Welche Haushaltsstrukturen finden wir in einer Wiener Vorstadt am Beginn des Liberalismus? Der vormoderne Haushalt war geprägt von der traditionellen Familienstruktur: Hier lebten nicht verwandte häusliche und betriebliche Arbeitskräfte im Familienverband mit (Gesindepersonen, Handwerkslehrlinge und -gesellen, ...). Im Zuge der Industrialisierung wurde das bürgerliche Familienideal etabliert (Konzentration auf Verwandtschaft und Kernfamilie). Gleichzeitig verbreiteten sich aber im Zuge der Industrialisierung auch andere Wohnformen wie das Bettgehertum oder die Untermiete. Meine spezifische Fragestellung behandelt die Haushaltsstruktur der Familien im Sample Karmeliterviertel. Die erste These beschäftigt sich mit der Kernfamilie im 19. Jahrhundert: Josef Ehmer beschreibt in seiner Studie über Familienstrukturen und Arbeitsorganisation in Gumpendorf das Phänomen, dass sich im 19. Jahrhundert der Trend Richtung Kernfamilie (Eltern und Kinder) verstärkt. These: Die Wohnung diente der Kernfamilie und den Gesindepersonen bzw. Untermietern. Außer Eltern, Kindern und betrieblichen Mitbewohnern waren keine weiteren (verwandten) Personen im Haushalt!Indikatoren für die Kernfamilienthese sind: Eltern, Kinder, Gesellen und Gesindepersonen.Indikatoren gegen die Kernfamilienthese sind: Großeltern, Tanten, Onkel, Nichten und Neffen, Cousinen und Cousins.