Lesen
Die Lektüre der wissenschaftlichen Literatur dient einerseits dazu, den Forschungsstand kennen zu lernen, ihn aber andererseits zu reflektieren und in Frage zu stellen. Dies kann auf unterschiedliche Art und Weise erfolgen, etwa als Kritik an den Thesen eines Texts, als Neuinterpretation der verwendeten Quellen oder als Infragestellung der angewandten Methoden. Schon während des ersten Semesters Ihres Studiums werden Sie die Erfahrung machen, dass wissenschaftliche Erkenntnis, die sich in Texten abbildet, zum einen die Basis jeder Forschungsarbeit darstellt, zum anderen aber permanent der Kritik unterzogen werden soll.
Erkenntnisinteresse beim Lesen
Gerade wenn Sie wissenschaftlich lesen, werden Sie nicht unvoreingenommen an einen Text herangehen, sondern folgen bestimmten Prämissen und Vorannahmen: Dazu gehört einmal Ihr Interesse an der Thematik, das Sie zum Beispiel durch die Themenwahl in einem Seminar oder einem Kurs bekundet haben. Meist haben Sie auch schon die eine oder andere Vorstellung von den zu untersuchenden historischen Ereignissen, Strukturen oder Personen, die Ihren Blick bei der Lektüre leitet. Im besten Fall sollten Sie bei der wissenschaftlichen Lektüre aber durch konkrete Forschungsfragen bzw. Fragestellungen und Hypothesen geleitet werden, die Ihr Interesse am zu lesenden Buch oder Artikel bestimmen.
Mit welchen Texten beginnen?
Wenn Sie sich eine neue Thematik und Fragestellung erarbeiten, werden Sie einmal mit der Literaturrecherche beginnen. Dabei sollten Sie zuerst allgemeine, über den engeren Themenbereich hinausgehende Darstellungen suchen. Texte in Refererenzwerken wie Fachlexika oder Handbüchern, Überblicksaufsätze, Zeitschriften, Review article und Artikel in Studienbüchern eignen sich dazu am besten. Diese Textsorten vermitteln, selbst wenn Sie schon vor einigen Jahren erschienen sind, einen ersten Eindruck davon wie sich Historiker*innen Ihrer Thematik nähern und welche allgemeinen Aspekte für Ihren Themenbereich von Interesse sein könnten. Wenn Sie bei der Literaturrecherche einen allgemeinen und noch dazu ganz aktuellen Einstiegstext finden – umso besser.
Keinesfalls sollten Sie aber der Meinung sein, mit der wissenschaftlichen Lektüre beginne man erst nach dem Ende der Literatursuche. Ganz im Gegenteil! Durch die sofortige Lektüre von allgemeinerer Literatur können Sie die weitere Literatursuche verfeinern und werden womöglich sogar in eine andere Richtung gelenkt. Außerdem finden Sie in Überblicksdarstellungen meist auch weitere Titel zu Ihrer Thematik.
Wenn Sie sich zum Beispiel mit dem Thema "Bauernbefreiung in Deutschland im 19. Jahrhundert" beschäftigen, werden Sie in Friedrich-Wilhelm Hennings, Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, Bd. 2: Deutsche Wirtschaftsgeschichte und Sozialgeschichte im 19. Jahrhundert, Paderborn 1996 fündig. Dort gibt es auf den Seiten 40-127 eine allgemeine Darstellung der Entwicklung der Landwirtschaft und der ländlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert, in der diese Thematik in einem allgemeinen wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Umfeld behandelt wird und Ihnen so der Einstieg möglich wird.
Wissenschaftliches Lesen ist kein passives Rezipieren, sondern ein aktiver Aneignungsprozess, in dem Ihre Lesehaltung, Ihre Vorkenntnisse, die Fragestellung und Hypothesen den Erkenntnisgewinn maßgeblich beeinflussen.
Wie beginnt man einen solchen Leseprozess? Egal ob es sich um eine allgemeine Darstellung oder um eine Spezialstudie handelt, es lohnt sich auf jeden Fall, einen Text einmal kursorisch und quasi 'von Außen' zu betrachten. Verschaffen Sie sich zuerst einige Eckdaten: Wann ist der Text erschienen? Wer sind die Autor*innen (ein Blick in den Klappentext oder ins Internet gibt Ihnen hier Auskunft)? Kommt Ihre Thematik überhaupt im Sachindex vor oder gibt es dazu sogar ein eigenes Kapitel im Inhaltsverzeichnis? Ist der Text in einer wissenschaftlichen Publikationsreihe erschienen oder etwa nur auf einer 'privaten' Homepage? Wie umfangreich sind die Anmerkungen und das Literaturverzeichnis? Wird aktuelle Literatur zitiert? Lesen Sie den Text kursorisch und 'quer', indem Sie beim Durchblättern bei Signalwörtern oder an sonst interessant erscheinenden Stellen einige Sätze oder Absätze genauer lesen. Bei aktuellen Büchern hilft meist auch ein Blick in eine Rezension, in der das Werk wissenschaftlich bewertet wurde. Wenn Sie mit einer Thematik schon vertrauter sind, können Sie womöglich im Literaturverzeichnis oder im Sach- und Personenindex erkennen, ob der Text auf dem Stand der aktuellen Diskussion ist und Sie von der Lektüre neue Erkenntnisse erwarten können.
Mit geringem Aufwand gewinnen Sie so einen ersten Eindruck von einem Text und können abschätzen, ob eine sorgfältigere Lektüre lohnt.
Anbei sehen Sie einen exemplarischen Vorgang, ein Buch anhand eines ersten Stöberns zu bewerten. Weitere Informationen dazu gibt es in der Übung.
Beispiel für erstes Lesen und Bewerten
Nachfolgend finden Sie ein Beispiel für eine erste Bewertung einer Überblicksdarstellung. Angenommen, Sie suchen Literatur zur methodischen Vorgehensweise der Frauengeschichte zu Beginn des Jahrhunderts und deshalb als erstes allgemeine Darstellungen zu dieser Thematik. Bei der Literatursuche stoßen Sie auf den Band Johanna Gehmacher und Maria Mesner, Hg., Frauen- und Geschlechtergeschichte. Positionen/Perspektiven, Innsbruck/Wien/München 2003. Die "Bewertung" als brauchbarer 'Einstiegstext' ergibt folgendes:
Wann erschienen? 2003.
Wer sind die Autor*innen bzw. Herausgeber*innen? Wie die Google-Suche ergibt ↗, ist Johanna Gehmacher ao. Univ. Prof. am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Maria Mesner ↗, ebenfalls Historikerin, leitet die Stiftung Bruno Kreisky Archiv und ist ebenfalls an der Universität Wien tätig. Beide haben, wie ein Blick in ihre Publikationsliste zeigt, einiges zur Frauengeschichte publiziert und sollten also als Herausgeberinnen die wissenschaftliche Qualität der Aufsätze in diesem Band garantieren.
Publikationsreihe? Der Band ist in einer Buchreihe mit dem Titel "Querschnitte – Grundlagentexte zur Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte" erschienen und sollte deshalb keine Spezialaufsätze, sondern eher Überblicks- und Einstiegstexte enthalten.
Inhaltsverzeichnis? Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis ergibt, dass hier vor allem die wissenschaftsgeschichtlichen und methodischen Zugänge im Mittelpunkt stehen und mit dem Aufsatz von Eva Blimlinger und Eva Hornung, Feministische Methodendiskussion in der Geschichtswissenschaft auf Seite 127-142 findet sich sogar ein entsprechender allgemeiner Text für die zu untersuchende Thematik.
Literaturverzeichnis? Der Text von Blimlinger und Hornung enthält auf den Seiten 139-142 ein Literaturverzeichnis samt weiterführender Literatur. Ein Blick in dieses Literaturverzeichnis ergibt, dass man hier eine wahre Fundgrube für die weitere Literaturrecherche entdeckt hat.
Kursorisch gelesen zeigt sich, dass der Aufsatz von Blimlinger und Hornung entlang der Zeitachse geschrieben ist – Methodendiskussion seit den 1960er-Jahren – und im zweiten Teil Beispiele gegenwärtiger methodischer Zugänge enthält. Das 'Überfliegen' einiger Sätze ergibt, dass die Autorinnen bemüht sind, die Spezifika des Methodeneinsatzes in der Frauengeschichte besonders herauszustreichen und dabei auch für Anfänger/innen verständlich schrieben. Hier können Sie eine Beispielsseite dieses Textes lesen.
Fazit? Der gefundene Aufsatz scheint damit für einen ersten Einstieg in die Thematik geeignet zu sein. Hier wird der Stand der Methodendiskussion in der Frauengeschichte in einem allgemeinen und historischen Zusammenhang dargestellt.