Archivgeschichte

Einleitung

Mit den Anfängen der Schriftlichkeit beginnt auch die Geschichte des Archivwesens. Antike Hochkulturen besitzen bereits Orte, an denen Schriftgut aus der Verwaltung zentral verwahrt wird. Meist handelt es sich dabei um Tontafeln aus den Kanzleien oder Registraturen der Herrscher bzw. Statthalter, die wohl eher auf dem Weg des Zufalls denn aus Gründen der bewussten Überlieferung erhalten blieben. 

Archive bzw. Vorformen von diesen lassen sich bei literalen Gesellschaften in fast allen Epochen und Regionen nachweisen. Vordringliche Intention des Sammelns und Archivierens ist dabei - von den Anfängen bis in die Gegenwart - die Sicherung von Recht und Besitz. Erst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert lösten sich Archive zusehends von der Verwaltung und gewannen vermehrt den Charakter von wissenschaftlichen Anstalten. Im folgenden wird ein kursorischer Überblick über die Geschichte der Archive geboten. 


Das Archiv in der römischen Antike

Im Antiken Rom wurden die wichtigsten staatlichen Dokumente im sogenannten aerarium bzw. vollständig aerarium populi Romani aufbewahrt. Das aerarium war eigentlich die römische Staatskasse. Diese befand sich im Saturntempel auf dem Forum Romani. Mit der Staatskasse wurden zugleich auch die Urkunden – in der Hauptsache Gesetze, Edikte, Verträge, Schuldverschreibungen – aufbewahrt. Seit 78 v. Chr. wurden die Dokumente in einem eigenen, teilweise heute noch vorhandenen Zweckbau, dem tabularium (s. Foto), verwahrt. In der Kaiserzeit kamen als Ort der Verwahrung von behördlichem Schriftgut noch die sogenannten "Registraturen" hinzu, die sich bei den einzelnen Behörden befanden und wo diese all das Schriftgut aufbewahrten, das nicht an das aerarium bzw. tabularium abzuliefern war. In Kaiserzeit und Spätantike finden wir Belege für die Durchdringung der Zivil- und Militärverwaltung mit Archivierungspraxis bis in die unterste Verwaltungsebene. Neben den Archiven der staatlichen Verwaltung bestand vermutlich seit dem 4. Jh. auch bereits ein Archiv des Bischofs von Rom im Lateran.

Von den genannten Einrichtungen zu unterscheiden sind jedoch die Bibliotheken, die unabhängig von diesen existierten und im Unterschied zum Behördenschriftgut der Archive insbesondere "Bücher" verwahrten – in der Regel dichterischen oder wissenschaftlichen Inhalts. Im Unterschied zu späteren Zeiten ist festzuhalten, dass der Beschreibstoff der Antike Papyrus war, das gerollt aufbewahrt wurde.


Das Archiv im Urkundenzeitalter (Mittelalter)

Die schriftlichen Quellen des Mittelalters lassen sich grob in zwei Bereiche teilen: Zum Einen sind dies die Handschriften (lat. codices) religiösen, wissenschaftlichen oder etwa literarischen Inhalts, die in den Bibliotheken verwahrt werden, und zum Anderen all die Schrifterzeugnisse, die im weitesten Sinne im Zuge von Verwaltung oder Herrschaftsausübung entstanden sind und die in Archiven aufbewahrt werden. Diese Dichotomie der Orte von Schriftgutverwahrung – Bibliothek und Archiv – existierte schon seit der Antike, findet sich ebenso im Mittelalter und lebt bis heute fort.

Archive des Mittelalters waren in erster Linie Speicher von rechtlichen Beweismitteln, sie dienten der Rechtssicherung einzelner Institutionen oder Personengruppen. In erster Linie wurden dort Urkunden und andere rechtsrelevante Dokumente (Zollordnungen, Grenzbeschreibungen, etc.) verwahrt, die im Konfliktfall als Beweismittel für Herrschafts- und Besitzansprüche dienten. Mittelalterliche Archive darf man sich nicht zu groß vorstellen. In der Regel wurden die Dokumente gemeinsam mit dem Schatz an einem sicheren Ort aufbewahrt, meist in Burgen, Türmen, Kirchen oder Kellern und dort in Truhen, Kisten oder Kästen. In diesem Sinne ist es oft treffender, von Archivbildungen als von Archiven zu sprechen, wobei aus den Archivbildungen bei entsprechender Kontinuität des Archivträgers Archive entstehen konnten.

Die skizzierte Entwicklung von Urkundenarchiven bzw. Urkundendepots führte über die so genannten "Schatzgewölbe" im 16. Jahrhundert hin zu den "Briefgewölben". Hierbei folgte eine Trennung der schriftlichen Aufzeichnungen vom materiellen "Schatz" einer Person oder einer Institution.


Das Archiv im Aktenzeitalter (Neuzeit bis Gegenwart)

Bis ins 16. Jahrhundert hinein waren die mittelalterlichen Modelle – Urkundendepot, Schatzgewölbe, Briefgewölbe – der Schriftgutaufbewahrung maßgebend. Reformen in der Verwaltung und in den Kanzleien sowie ein vermehrtes Aufkommen von Schriftlichkeit führten zu neuen Formen von Archivorganisationen. Das Vorherrschen schriftlicher Überlieferung in Aktenform lässt uns im Gegensatz zum mittelalterlichen "Urkundenzeitalter" vom neuzeitlichen "Aktenzeitalter" sprechen.

In den sich bildenden Territorialstaaten kam es zu Beginn des 15. Jahrhunderts im Zuge von Verwaltungsreformen, wie sie etwa Kaiser Maximilian I. für das römisch-deutsche Reich und besonders für die habsburgischen Erblande verordnete, zur Schaffung neuer Behörden (z.b. von Finanzbehörden). Diese behielten das bei der Erledigung ihrer Aufgaben anfallende Schriftgut bei sich. In der Folge entstanden daraus die Behördenarchive. Kennzeichnend für die Entwicklung der Archive in der österreichischen Verwaltung ist auch, dass die alten ("toten") Registraturen neben den aktuellen ("lebenden") Registraturen bei den Behörden verblieben.

Neben den Behördenarchiven entwickelten sich aus den Briefgewölben die so genannten Auslesearchive. Diese Entwicklung setzte bereits im 16. Jahrhundert ein und die Auslesearchive bestanden bis in das 19. Jahrhundert hinein. Grundlage für die Entstehung der Auslesearchive war die Bildung von beratenden Gremien für die Landesfürsten. In Österreich entwickelte sich etwa aus den fürstlichen Regierungskollegien der "Geheime Rat", in Brandenburg beispielsweise der "Geheime Staatsrat". Aufgaben dieser Kollegien waren die Beratung des Fürsten vor allem in dynastischen und Landesangelegenheiten. Die dafür notwendigen Unterlagen ließ man sich aus den einzelnen Urkundendepots und Archiven herbeischaffen. Daraus entstanden die Auslesearchive. Als Beispiel sei das 1749/50 begründete "Geheime Hausarchiv" (später "Haus-, Hof- und Staatsarchiv") in Wien genannt.

Die sich bildenden Auslesearchive wurden in der Folge zu Hauptarchiven ausgebaut. Dazu wurden ganze Registraturen mit Unterlagen von hoher politischer Bedeutung an das Auslesearchiv gezogen. Aus dem dynastisch geprägten Auslesearchiv wurde so das territorial bestimmte Hauptarchiv, dem wichtigsten, für die Regierungsbehörden zuständigen Archiv des Landes.

Aus den bei den Behörden verbliebenen Teilen der Registraturen entstanden dagegen die Facharchive, etwa das Archiv der Hofkanzlei in der Habsburgermonarchie, aus dem sich das Allgemeine Verwaltungsarchiv der österreichischen Republik bildete.

Das gegenwärtige Bild der Archivlandschaft geht auf die Französische Revolution zurück. Die revolutionäre Nationalversammlung schuf sich 1789 ihr eigenes Nationalarchiv (Archives Nationales), in dem sie das gesamte Archivgut der Staatsverwaltung und der durch die Revolution entstandenen Institutionen zusammenführte. Einige Jahre später gründete man aus den regionalen Sammelstellen des Nationalarchivs die Departementsarchive, die dem Zentralarchiv unterstellt wurden. Diese Einteilung in ein nationales Zentralarchiv und mehrere Regionalarchive wurde beispielhaft und begegnet uns heute in gleicher oder ähnlicher Form in fast allen Ländern.

Grundlegend für das moderne Archivwesen wurde das französische Archivgesetz vom 25. Juni 1794, in dem angeordnet wurde, dass nicht nur der rechtliche, sondern auch der historische, wissenschaftliche und künstlerische Wert von Dokumenten für die Übernahme in das Archiv entscheidend sein soll. Durch diese Bestimmung wurde der Grundstein für die Entwicklung der Archive von Orten der rechtlichen Beweissicherung hin zu historischen Forschungsstätten gelegt. 


Funktionale Typologie: Aussteller- versus Empfängerarchiv

Eine Typologie der Archive lässt sich – wie wir gesehen haben – anhand ihrer Geschichte vornehmen. Eine andere Möglichkeit ist die Bildung einer Typologie nach funktionalen Kriterien. Ausgehend von der Funktion der Archive für die Archivhalter lassen sich zwei Typen unterscheiden: Aussteller- und Empfängerarchiv. Eines sei jedoch gleich vorneweg angemerkt: Eine "reine Form" gibt es weder bei den Empfänger- und noch weniger bei den Ausstellerarchiven, denn zumeist finden sich Elemente des einen auch im anderen. Moderne Archive sind in der Regel Ausstellerarchive, die natürlich angewachsene Bestände von fremder Provenienz enthalten (etwa behördliche Bescheide).

Empfängerarchiv

Die Archive des Mittelalters waren in der Regel Empfängerarchive, d.h. dass vor allem die eingehenden Schriftstücke fremder Provenienz aufbewahrt wurden, um gewährte Privilegien, erhaltene Schenkungen etc. zu sichern. Selten nur finden sich Produkte aus der eigenen Kanzlei in einem Archiv. Dies ist etwa der Fall, wenn eine Urkunde erstellt, aber aus den verschiedensten Gründen nicht expediert wurde. Für die Beschäftigung mit den Urkunden eines bestimmten Herrschers, eines Papstes, eines Bischofs, einer Stadt, eines Klosters etc. bedeutet dies, dass ein oft langwieriges Zusammensuchen der einzelnen Stücke in den verschiedenen Archiven notwendig ist. Urkundenbücher bieten daher in der Regel eine Edition des Bestands eines Empfängers (vgl. etwa die zahlreichen Urkundeneditionen zu österreichischen Klöstern) und nur selten die eines Ausstellers (etwa das Babenberger Urkundenbuch). Funktional dienten die genannten Archive vor allem für die Sicherung von Besitz und hatten somit einen zukünftigen Nutzen vor Augen.

Möchte man etwa zum Urkundenwesen der Herzoge von Österreich forschen, so muss man sämtliche Archive berücksichtigen, in denen sich Urkunden der Herzöge erhalten haben könnten. In dem 2007 erschienen Regestenband zu der Regierung der Herzoge Albrecht III. und Leopold III. für den Zeitraum von 1365-1370 etwa sind insgesamt 704 Urkunden in Regestenform zu finden. Für diese 704 Regesten standen in 433 Fällen die Urkunden in Originalüberlieferung, der Rest in Kopialüberlieferung, d.h. abschriftlicher Form zur Verfügung. Diese 433 Originalurkunden wiederum sind auf insgesamt 93 verschiedene Archive (!) verteilt [vgl. Christian Lackner (Bearb., unter Mitarbeit von Claudia Feller), Regesta Habsburgica. Regesten der Grafen von Habsburg und der Herzoge von Österreich aus dem Hause Habsburg. Abt. 5. Die Regesten der Herzoge von Österreich 1365 - 1395. Teilbd. 1. 1365 - 1370 (Innsbruck/Wagner/Wien 2007), 9-15].


Ausstellerarchiv

Das Aufkommen von Akten im Spätmittelalter bedingt eine andere Form des Umgangs mit Schriftgut. Akten entstehen im Zuge des Geschäftsganges und wachsen in dessen Verlauf kontinuierlich an. Sie werden daher direkt in der Kanzlei bzw. in der Registratur verwahrt und kommen nach Erledigung des Geschäftsgangs in das für die Geschäftsstelle zuständige Archiv. Diese Archive werden daher Ausstellerarchive genannt.